"Schneiden, Schnippeln, Ritzen ..." – Selbstverletzendes Verhalten
Ein Gespräch zwischen Wilfried Schneider und Prof. Dr. Ulrich Sachsse

Interview von  ➤ Wilfried Schneider mit Prof. Dr. Ulrich Sachsse am 10.12.1998 in Göttingen


Schneider: Wenn wir hier von selbstverletzendem Verhalten sprechen, dann sind Menschen gemeint, die sich mit Scherben oder Klingen die Haut einritzen, mit Rasierklingen oder einem Messer Schnittwunden bis in die Muskulatur beibringen. Können wir hier auch den Personenkreis zuordnen, der sich beispielsweise mit Zigaretten, einem Feuerzeug oder Bügeleisen, vielleicht auch heißem Wasser Verbrennungen der Haut zufügt? Und schließen Sie auch noch die ein, die sich mit Laugen die Haut verätzen?

Sachsse:> Im Prinzip gehören alle diese Patientinnen und Patienten dazu. Diese Arten der Selbstbeschädigung sind ganz offensichtlich. Sie fallen besonders auf und sind vielleicht auch deshalb so besonders erschreckend. Man kann dieses Feld sogar noch weiter fassen und sagen, es gibt eine große Gruppe von selbstverletzenden und selbstschädigenden Verhaltensweisen, die nicht so offensichtlich sind, von exzessivem Sport über ungesunde Ernährung bis hin zu zuwenig Schlaf.

Schneider: Sie schreiben in Ihrem Buch "Selbstverletzendes Verhalten", daß Ritzen und Schneiden die Funktion hat, die Anorexie in den 70er und Bulimie in den 80 Jahren hatte. Haben Sie eine Erklärung dafür, warum nun nicht Nahrung sondern, Werkzeuge benutzt werden?

Sachsse: Dafür habe ich keine Erklärung, das sind Fragen, die schwer zu beantworten sind, nämlich die Fragen nach der Symptomspezifität. Warum bringt ein Jahrzehnt diese Symptomatik hervor, das zweite eine andere, das dritte wieder eine andere? Man kann dazu nur Einfälle sammeln, nur assoziieren. Meine Assoziation ist diejenige: In diesem Jahrzehnt wird sehr viel über Mißbrauch, Mißhandlung, Traumatisierung geredet, nachgedacht, sehr widersprüchlich, sehr kontrovers. In früheren Jahrzehnten war es möglich, dem Thema auszuweichen. Wer mit diesem Thema seelisch zu tun hatte, konnte häufig durchs Leben gehen, ohne viel daran erinnert zu werden. Das ist heute sehr schwierig. Kaum eine Fernsehsendung, eine Zeitschrift, Illustrierte oder Nachrichtensendung, wo nicht sehr dramatische Ereignisse aus der Welt berichtet werden. Themen wie Kindesmißhandlung, aber auch sexueller Mißbrauch sind Alltagsthemen geworden. In der Sprache der Traumatherapie würde man sagen, die Trigger sind stärker geworden, sind häufiger geworden. Das bedeutet, die Auslöserreize haben zugenommen, und es bedeutet, Menschen, die dieses Problem haben, werden heute öfters daran erinnert, kommen in unerträgliche Zustände, und diese Zustände sind besonders gut durch selbstverletzendes Verhalten zu beenden, so daß deshalb diese Symptomatik besonders zugenommen hat.

Schneider: Wir sprechen überwiegend von Selbstverletzerinnen. Was ist der Hintergrund dafür, daß es sich um weibliche Personen handelt? Gibt es auch männliche Personen, die sich auf diese Weise selbst verletzen?

Sachsse: Ja, es gibt auch Männer. Nach statistischer Untersuchung ist das Verhältnis zwischen betroffenen Frauen und Männern circa 6:1. Einmal stimmt das recht gut überein mit den Zahlen, die auch bekannt sind für den sexuellen Mißbrauch zwischen Frauen und Männern. Zum zweiten haben Männer die Tendenz, ob nun kulturell bedingt, gesellschaftlich oder biologisch – das wird erst die Zukunft erweisen –, mit aggressiven Spannungen so umzugehen, daß sie sich an anderen Körpern abreagieren, also andere angreifen, während Frauen, kulturell, gesellschaftlich, biologisch bedingt, Aggressionen eher gegen sich selber richten. Männer verletzen sich auch, insbesondere dann, wenn sie ihre Aggressionen nicht mehr nach außen wenden können, also in der Gerichtspsychatrie, der forensischen Psychatrie und in Gefängnissen, da gibt es dieses Problem häufig, viel öfter als außerhalb dieser Institutionen. Da können die Männer sich nicht nach außen wenden und richten ihre Aggressivität gegen den eigenen Körper.

Schneider: Es heißt, daß es sich überwiegend um Frauen zwischen 16 und 30 Jahren handelt. Nehmen wir an, diese Frauen sind nicht in therapeutischer Behandlung. Hören sie mit zunehmendem Alter auf, zu ritzen oder zu schneiden? Wenn ja, suchen und finden die Frauen einen Ersatz für diese Art der Selbstverletzung?

Sachsse: Es gibt keine Verlaufsstudien. Es gibt Verlaufsstudien für eine Krankheitsgruppe, die mit der chronischen posttraumatischen Belastungsstörung praktisch identisch ist. Das ist die Gruppe der Borderline Persönlichkeitsstörung, der Borderline Patientinnen. Hier ist bekannt, daß behandelte Patientinnen und Patienten über die Jahre hin einen wesentlich besseren Verlauf nehmen als unbehandelte. Bei den unbehandelten besteht oft eine Veränderung dahingehend, daß sie mit Mitte/Ende zwanzig beginnen, ein Suchtverhalten zu entwickeln, dann also alkoholkrank werden oder aber zu sehr vielen Tabletten greifen oder aber ein Störungsbild entwickeln, das sehr ähnlich der Depression, der schweren Depression ist.

Schneider: Ich beobachte in den letzten 5 Jahren, daß sich unter den Selbstverletzerinnen immer mehr junge Kinder befinden. Ist das eine Zufallsbeobachtung oder machen Sie ähnliche Erfahrungen. Wie ist diese Verlagerung zu deuten?

Sachsse: Ein Punkt ist sicherlich der, daß die Symptomatik inzwischen bekannt und verbreitet ist, und natürlich hat eine Symptomatik gerade unter Jugendlichen sehr leicht Ansteckungscharakter. Es gibt Wellen von Haschischmißbrauch, Wellen von Ecstasy Ausprobieren, Wellen von Anorexie in den 70er Jahren, Wellen von selbstverletzendem Verhalten in Klassen, in Heimen, in Institutionen. Da besteht ein hoher Ansteckungseffekt nach dem Motto: hast Du schon mal ausprobiert? Zum zweiten liegt hier sicherlich auch eine Entwicklung vor, die der Entwicklung von Suchtkrankheiten ganz ähnlich ist. Auch dort ist leider zu beobachten, daß das Einstiegsalter immer jünger wird. Viele sehr frühzeitig geschädigte, entwurzelte, mißhandelte, ausgestoßene Kinder entwickeln ja eher so ein Ensemble von Symptomen. Die schnippeln, die nehmen mehr oder weniger wahllos irgendwelche Drogen, suchen verzweifelt irgendeine Gruppierung, der sie sich anschließen können, und es ist fast ein Zufallsprinzip, wo sie landen. Und für diese Kinder – es fällt mir schwer, Jugendliche zu sagen – ist das ein Symptom unter mehreren. Insbesondere bei denen nimmt diese Symptomatik, aber auch andere Verhaltensweisen sicherlich zu. Das beobachten wir hier hauptsächlich auf unserer Akutentgiftungsstation für illegale Drogen, wo das Alter immer jünger wird, und auch dort haben wir die Beobachtung, es gibt bereits Zehnjährige, die sich erheblich verletzen.

Schneider: Eltern, aber auch die, die beruflich mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu tun haben, deuten bei der ersten Begegnung mit Selbstverletzung dies als Suizidversuch, Selbstbestrafung, Selbstzerstörung und ähnliches mehr. Ich bekomme von Mädchen und jungen Frauen dagegen Antworten wie: "Damit ich den inneren Schmerz nicht spüre". "Einfach ein Glücksgefühl. Ich bin dann ganz leicht". "Wie, wenn innen ein Luftballon immer größer und größer wird und ich ihn mit einer Stecknadel anpiekse, bevor er von selbst platzt". "Damit die Tränen nicht zu Blut werden". Diese Antworten widersprechen den vorher erwähnten Deutungen. Wer liegt nach Ihrer Erfahrung richtig?

Sachsse: Richtig liegt zweifelsfrei die Patientin. Diese Symptomatik ist etwa sehr Doppelbödiges, etwas sehr Janusgesichtiges, sie hat praktisch zwei Gesichter. Für die Patientin ist es sehr häufig – nicht immer, aber meistens – eine Form von Selbstfürsorge, eine sehr seltsame Form vom Umgang mit Druckgefühlen, mit Spannung, mit nicht aushaltbaren Erregungszuständen und Streß, und es wirkt dann besser als Medikamente oder Gespräche oder andere Vorgehensweisen. Für mich ist es auch eine Frage an die Biochemie, an die somatischen Felder der Medizin. Warum und wie wirkt eigentlich eine Selbstbeschädigung? Wieso hat sie für diese Patientinnen die Wirksamkeit eines Antidissoziativums, wieso wirkt das besser als jedes Medikament, und was sind dort die Wirkwege? Es wäre ja schön, wenn wir irgendwann einmal ein Medikament hätten, das wir einer Patientin, die so unter Druck steht und platzt und nicht weiß, wie sie aus ihrem Erregungszustand herauskommen soll, die so weggedreht ist, daß sie schon nicht mehr mit anderen sprechen kann, geben könnten und das genauso wirkt wie eine Selbstverletzung. Darauf hoffe ich immer noch.

Gleichzeitig hat dieses Symptom eine Wirkung nach außen. Es ist ein Signal: Die Welt hat mich verlassen, die Welt hat versagt, die Welt war schlecht, die Welt hat mich nicht gut bemuttert. Ich habe nicht gelernt, mit mir umzugehen. Ihr habt alle etwas mit mir falsch gemacht. Das stimmt auch, wenn auch häufig erst in zweiter Linie. Es ist schlecht, wenn jemand den Kurzschluß hat, dieses Symptom macht mich hilflos, es beunruhigt mich. Also will die Patientin oder meine Tochter oder diese Schülerin mich hilflos machen. Das, was sie bei mir bewirkt, das hat sie auch intendiert, das hat sie auch vorgehabt. Das ist ein bißchen einfach geschlossen und gedacht. Trotzdem bleibt es dabei, daß diese Symptomatik zwei Funktionen gleichzeitig erfüllt: einmal nach innen eine selbstfürsorgliche und selbstregulierende und gleichzeitig nach außen einen Vorwurf, ein Signal, einen Appell beinhal-tet. Das macht es so schwierig. Für die Patientin ist es gut, für die Umwelt ist es belastend.

Schneider: Welchen Nutzen haben die Mädchen und jungen Frauen, die ich zitiert habe, von der Selbstverletzung? Handelt es sich bei dieser Art der Selbstverletzung immer um ein traumabedingtes Symptom? Was ist in der Geschichte der Mädchen und Frauen geschehen, daß sie sich selbst verletzen?

Sachsse: Die Mädchen haben insofern etwas davon, als bei sehr vielen nach einer halben bis einer Minute der Kopf frei ist, die Gedanken klar sind, die Gefühle herunterreguliert sind, der Druck weniger ist, und sie wieder klarer denken, reden, mit sich umgehen und sich kontrollieren können. Sie sind also wieder gesünder. Dieses Symptom wirkt meistens gegen Erregungszustände, die wir als dissoziative Zustände bezeichnen, wo man aus seinem Körper herausgetreten ist – man spricht da von Depersonalisation, fühlt sich gar nicht – oder wo wir aus der Wirklichkeit herausgetreten sind – man sagt Derealisation, weil wir dann nicht mehr in der Wirklichkeit stehen –, und diese Mechanismen werden besonders oft angewendet, um einer traumatischen Erfahrung zu entkommen. Wenn wir mißhandelt werden, geschlagen werden, mißbraucht werden, sexuell gewaltsam behandelt werden, schwere Kinderkrankheiten haben und Ärzte uns Schmerzen zufügen müssen, könnte es sein, daß wir lernen, Depersonalisation und Derealisation zu trainieren und gezielt einzusetzen. Wie andere Symptome auch, wie z.B. Suchtverhalten, kann das Symptom anfangen, ein Eigenleben zu führen. Es kann – wie man sagt – sich generalisieren, sich ausbreiten und sich von der ursprünglichen Situation ablösen. Dann reagieren Menschen auf jeden Alltagsstreß, auf jede Alltagsanforderung, sagen wir ruhig auf jeden Pipifax mit Depersonalisation und Derealisation und kommen dann in Erregungszustände.

Das heißt aber nicht, daß die einfache Formel gelten würde, Selbstverletzung gleich mißbraucht. Diese Formel ist falsch. Alle Zahlen weisen darauf hin, daß zwei Drittel bis drei Viertel der Patientinnen mit einer häufigen, schweren Selbstverletzungssymptomatik schwere Kindheitstraumata hinter sich haben, das heißt aber, daß ein Viertel bis ein Drittel andere Lebenserfahrungen haben. Auch ein sehr widersprüchliches Familienklima, eine Situation, wo man konfus wird, wo Verhalten und Sprache sich widersprechen, wo Eltern sagen, wir lieben dich, sich aber ganz anders verhalten, oder wo Eltern hochgradig aggressiv sind, aber immer wieder vertreten, bei uns gibt es keinen Streit. Auch das kann dazu führen, daß man ganz wirr im Kopf wird, ganz durcheinander, mit seinen Gefühlen nicht zurechtkommt, nicht weiß, was körperliche Spannungszustände denn gefühlsmäßig bedeuten, dem eigenen Inneren gegenüber hilflos ist, dann in Erregungszustände kommt und zu Selbstverletzung greift, um den Kopf wieder klarzubekommen.

Also, bitte keine einfachen Formeln. In jedem Einzelfall muß genau nachgeschaut werden.

Schneider: Gilt das auch für doppelte Botschaften wie "Sei lieb, aber zeige keine Gefühle"?

Sachsse: Alle Doppelbödigkeiten, alle Situationen, wo das eine gesagt und das andere getan wird, wo die Eltern unterschiedliche Botschaften und Anforderungen senden, z.B. "Sei lieb und zeige keine Gefühle", oder aber "Leiste ganz viel, aber überflügle uns nicht". "Es ist genug da", aber die Atmosphäre ist doch ganz karg. Immer dann entsteht im Inneren eine Verwirrtheit oder Konfusion, eine Widersprüchlichkeit, über die meistens nicht nachgedacht werden kann und darf, über die auch nicht gesprochen werden kann und darf. Und immer dann, wenn Widersprüchlichkeiten zweifelsfrei da sind, darüber nicht nachgedacht und gesprochen werden kann, spricht man von doublebind, von Doppelbindung, und ein solcher Zustand macht ganz unerträgliche Gefühlszustände von Hilflosigkeit und Nichtver-stehen und Ausgeliefertsein.

Schneider: Können Sie beschreiben, was beispielsweise in einem Mädchen von 16 Jahren vor sich geht, was sie denkt und fühlt, wenn es die Rasierklinge in die Hand nimmt, sich schneidet, die Wunde sichtbar wird und Blut fließt?

Sachsse: Meine Patientinnen haben mir eher andere Verläufe geschildert, nämlich daß sie manchmal halbe Tage oder mehrere Tage gekämpft haben gegen den Impuls, sich zu verletzen, dann irgendwann mal aufgegeben haben und dann ihre Handlung mechanisch, fast automatisch in einer Art Alltagstrance, etwas weggetreten, so wie beim Autofahren, wo wir auch nicht ans Autofahren denken, manchmal auch neben sich stehend vollzogen haben, eben gerade nicht mit den Fingerspitzen, dem Daumen die Rasierklinge gespürt haben. Wenn sie das könnten, diese Rasierklinge spüren, dann wären sie wahrscheinlich gar nicht so depersonalisiert. Wenn sie spüren würden, wie die Rasierklinge die Hautgrenzen verletzt, dann bliebe es bei 1-2 mm, ganz oberflächlich, und dann würden sie das lassen. Wir machen diese Erfahrungen bei Patientinnen, die wir behandelt haben und die dann wieder ihr normales Körpergefühl entwickeln. Denen fällt es dann zunehmend schwerer, sich zu verletzen, weil der Körper sich anders anfühlt, weil er nicht mehr depersonalisiert ist, weil das Symptom einerseits nicht mehr nötig ist, andererseits dann aber auch nicht mehr wirkt. Das kann vorübergehend sogar etwas beunruhigend sein, daß eine Möglichkeit, sich abzuregen und sich zu steuern, plötzlich nicht mehr zur Verfügung steht.

Schneider: Bleiben wir noch bei dem 16jährigen Mädchen. Was geschieht nun? Wie lange hält beispielsweise das "Glücksgefühl" an? Was, wenn das "Glücksgefühl" vorbei ist. Ein seelischer Kater?

Sachsse: Genau. Es ist eigentlich ein Ablauf, der nach der Verletzung kurzfristig zur Entlastung, Erleichterung, manchmal sogar einem gewissen Glücksgefühl führt, eine Situation, die vielleicht Leistungssportler oder Bergsteiger kennen oder Leute, die fallschirmspringen. Nach einigen Stunden kommen dann Selbstvorwürfe, Vorwürfe, versagt zu haben, schwach gewesen zu sein, sich nicht gesteuert zu haben, Vorwürfe, mal wieder nicht stark genug gewesen zu sein, und es kommt zu einem Katergefühl, ein bedrücktes, ödes, leeres, auch manchmal ein bißchen seelisch schmerzhaftes Gefühl, was vielleicht sogar auch damit zusammenhängt, daß dieser Kick, der dabei ausgelöst worden ist, sich herunterreguliert, und vielleicht werden wir irgendwann einmal feststellen, daß das Herunterregulieren der Streßhormone dabei mit eine Rollen spielt und es auch ein körperlich depressiver Zustand ist, in den Patientinnen anschließend kommen. Dann beginnen die Selbstvorwürfe, und manche verletzen sich dann, weil sie sich verletzt haben.

Schneider: Was unternimmt die Betroffene für die Versorgung der vielleicht tiefen Schnittwunde?

Sachsse: Viele gehen anschließend erstaunlich selbstfürsorglich mit sich um. Manche versuchen, diese Situation ganz geheimzuhalten und die Wunde zuhause zu versorgen und entwickeln dabei ganz gute Fähigkeiten als Krankenschwester für sich selbst. Sie sind bei dieser Selbstversorgung selbstfürsorglicher als sonst. Andere wenden sich an vertraute Ärzte und sagen, ich bin in die Brotmaschine gekommen, oder das Messer ist mir abgerutscht, oder da lag bei uns eine Glasscherbe rum. Wieder andere vertrauen sich irgendeinem Arzt an und bitten darum, versorgt zu werden, genäht zu werden und nicht gleich in die nächste Psychiatrie eingewiesen zu werden. Wieder andere treten die Flucht nach vorn an und gehen in die nächste Unfallambulanz, wo es ein Glücksspiel ist, auf was für eine Art von Arzt sie treffen. Da gibt es dann Ärzte, die sagen, naja, wollen wir nicht gleich einen Reißverschluß einbauen, oder aber, o.k., dann können wir uns die örtliche Betäubung beim Nähen aber sparen. Andere sagen, um Himmelswillen, Ihnen muß es aber schlecht gehen. Wollen wir uns heute nacht nicht noch 4 Stunden unterhalten? Wieder andere sagen, Sie können mir erzählen, was Sie wollen. Das war ein Selbstmordversuch. Ab in die nächste Psychatrie.

Sicherlich ist es gut, wenn eine Ärztin oder ein Arzt, der die Patientin nicht gut kennt, die mit Selbstverletzung kommt, einen diensthabenden Psychiater hinzuzieht, weil die Abschätzung der Suizidalität tatsächlich nicht leicht ist. Einige sind nach einer Selbstverletzung suizidaler, erst recht suizidgefährdet. Bei anderen ist der Druck weg, die Luft ist raus, es geht ihnen besser. Um das abzuschätzen, braucht man einfach schon ein bißchen Erfahrung, und man kann es auch falsch machen. Auf jeden Fall würde ich immer jemanden einer psychiatrischen Untersuchung zuführen, der oder die alkoholisiert ist oder unter Drogen steht und sich in einem solchen Zustand selber verletzt hat. Das ist ein Zustand der Unberechenbarkeit, wo ich mich auf nichts verlasse, es sei denn, ich kenne die Patientin gut und kann sie deshalb einschätzen und weiß, wie es ihr geht.

Schneider: Ich begegne in der Fachliteratur oft der Bezeichnung "offene Selbstverletzerin". Was ist damit gemeint?

Sachsse: Es bezieht sich nicht darauf, daß man sagt, man sieht es, sondern es bezeichnet das Verhalten, daß jemand erstens genau weiß, daß sie es selber gemacht hat – ich spreche jetzt überwiegend von Frauen – und zweitens auch nach einer gewissen Phase der Vertrauensbildung in der Lage und bereit ist zu sagen, ja, das habe ich getan.

Es gibt zusätzlich eine Gruppe von Patientinnen und Patienten, bei denen es so ist, daß sie sich krank machen, sich Verletzungen zufügen und es sich selbst nicht bewußt machen können, schon gar nicht irgendeinem Fremden gegenüber. Ein Kollege, Prof. Freyberger sen., hat geschätzt, daß in einem spezialisierten Großklinikum wie der Medizinischen Hochschule Hannover jeden Tag 3-4 Patientinnen oder Patienten mit einer Krankheit diagnostiziert werden, nicht entdeckt werden, sondern diagnostisch untersucht werden, die an der Entstehung ihrer Krankheit unbewußt oder halbbewußt erheblich mitgewirkt haben. Diese Erkrankungsform, die heimliche Selbstverletzung, die selbstgemachte Krankheit, man benutzt meist das englische Wort factitious disease – gemachte Erkrankung –, ist therapeutisch noch schwieriger, weil es zunächst darum geht, jemanden überhaupt in psychotherapeutische Behandlung zu bekommen, der oder die fest überzeugt ist, eine körperliche Krankheit zu haben. Das sind Menschen, die sich Schmutzwasser injizieren in die Vene oder in die Blase und zum Arzt gehen mit einer heftigen Entzündung, einer schweren Sepsis, auch den Notarzt brauchen, und die nie und nimmer auf die Idee kämen, daß in einem dissoziierten Zustand sie sich dieses Symptom selber gemacht haben. Das ist noch einmal ein anderes Behandlungsfeld, und Frau Eckhardt in Mainz hat viel darüber gearbeitet und Herr Paar in der Klinik Gelderland, auch Herr Plassmann in der Burghof - Klinik, die mit diesem Krankheitsbild spezifische Erfahrungen gesammelt haben. Frau Eckhardt hat ja das Buch geschrieben "Im Krieg mit dem Körper". Da ist sehr viel über diese Art der Symptombildung auch gut verständlich nachzulesen.

Schneider: Ich höre oder erlebe oft, daß Selbstverletzerinnen ihre Verletzungen verbergen, ähnlich wie der Alkoholiker seine Flaschen versteckt. Beispielsweise wundert sich die Sportlehrerin, daß es einer Schülerin lange Zeit gelingt, nicht am Sportunterricht teilzunehmen. Mal ist sie kurz vor dem Unterricht krank, irgendwann fällt der Lehrerin auf, daß die Schülerin auffällig häufig ihre Regel hat, mal ist sie "einfach trotzig" oder hat kreative Ausreden und setzt so die Nichtteilnahme durch. So verhindert die Schülerin, daß andere ihre Schnittwunden oder Narben sehen. In welchem inneren Konflikt befindet sich diese Schülerin? Sie kann nicht zeigen, was ihr ein Glücksgefühl bereitete?

Sachsse: Nach meinen Erfahrungen gibt es zwei Gruppen von Patientínnen. Die größere Gruppe verbirgt das Symptom gegenüber Menschen, die etwas entfernter sind. Sie wollen das nicht allen unter die Nase binden. Die gehen damit auch nicht ins Freibad, tragen langärmelige Kleidung, nehmen nicht am Sportunterricht teil und schämen sich auch dieser Symptomatik. Dann gibt es eine andere Gruppe, die dieses Symptom jedem unter die Nase reibt - auch denjenigen, die es gar nicht so genau wissen und sehen wollen -, die fast etwas aggressiv provokant zu dieser Symptomatik stehen, vielleicht auch eingebunden haben in eine Punk-Kultur, wo es dann praktisch dazugehört, oder es verbinden mit sehr ausgeprägtem body-piercing oder mit Tätowierung, die die Selbstverletzung zum Stil machen. Diese Gruppe ist klein, kommt aber auch nicht so oft in Behandlung. Für sie ist es sozusagen ein Lebensstil und eine Art, mit sich umzugehen, und alle anderen Menschen sind eben irgendwelche Waschlappen. Sie tragen goldene Rasierklingen am Kettchen oder als Ohrring und haben die Symptomatik so etwas aggressiv zum Bestandteil ihrer jugendlichen Identität gemacht.

Schneider: Bleiben wir bei der Lehrerin, stellvertretend für die, die beruflich damit konfrontiert werden. Wie soll die Lehrerin reagieren, was sagt sie? Nehmen wir einmal an, die Lehrerin versucht mit der Schülerin darüber im Gespräch zu bleiben. Was soll oder kann die Lehrerin tun, was unterlassen, will sie der Schülerin helfen?

Sachsse: In der Frage ist enthalten, daß erstens das ganze ein Dosierungsproblem ist, zweitens jeder weiß, daß man es beim Umgang mit Jugendlichen, ob als Lehrer, Erzieher, im Freizeitbereich oder auch als Eltern eigentlich immer nur falsch machen kann. Insofern ist es falsch, das Symptom einfach zu übergehen, und es ist genauso falsch, auf dem Symptom herumzureiten.

Was nun im Einzelfall die richtige Dosierung ist, ist ganz schwer zu sagen, und niemand sollte sich hinterher Vorwürfe machen, wenn ihm vermittelt worden ist, das hast du aber falsch gemacht. Ich würde auf jeden Fall etwas so Offensichtliches wie eine Selbstverletzung, wie eine Alkoholfahne im Unterricht, wie Knopfpupillen, die deutlich zeigen, daß jemand zugedröhnt ist, ansprechen und ins Gespräch bringen. Ich würde es nicht übergehen. Sehr viele berichten, eigentlich habe ich ja eine ganze Menge Signale gesandt, und rückblickend finde ich es nicht gut, daß nichts und niemand irgendwann das mal angesprochen hat.

Schneider: Zwischenfrage: Ist es richtig: die oder der Betroffene muß dann vielleicht höher dosieren, um dieses Ziel zu erreichen?

Sachsse: So ist es. Zum zweiten ist es im allgemeinen nicht hilfreich, einen Jugendlichen oder jungen Erwachsenen unter Gesundungs- oder Genesungsdruck zu setzen. Das bedeutet zu sagen: "Jetzt habe ich mich schon um dich gekümmert, jetzt werde aber bitte auch schnell symptomfrei und ändere dich!" Am hilfreichsten und schwierigsten ist es sicherlich, mit dem Wissen um eine Symptomatik zu leben und gleichzeitig den Gesprächsfaden aufrechtzuerhalten und mit dem Jugendlichen gemeinsam zu schauen, wo er Ansprechpartner findet, die sowohl kompetent als auch für ihn akzeptabel sind. Das ist nicht immer ganz leicht.

Bei leichteren Formen von Selbstverletzung, bei ein-, zweimal, die man mal so mitbekommt, kann es auch richtig sein, sie zu übergehen, denn in der Entwicklung von Jugendlichen gibt es oft Wellen. Es gibt dann eben die Welle, daß alle 25 Uhren mit sich tragen oder sich in einer Klasse alle mal verletzen.

Wenn man sich dann auf das Symptom stürzt, dann kann es auch sein, daß man es gerade besonders interessant macht und in den Mittelpunkt stellt und alles sich darum dreht und daß die Überreaktion der Erwachsenen dazu beiträgt, daß man das Symptom behält, weil man sich damit sowohl interessant machen kann als auch die Erwachsenen zur Verzweiflung bringt.

Schneider: Wir können annehmen, daß Eltern, aber auch Lehrer, Sozialpädagogen, Erzieher bald in die Situation kommen, sich an Fachleute zu wenden. Einmal, um sich selbst Rat zu holen, zum anderen, um das Kind mit diesen Fachleuten in Kontakt zu bringen. An wen können sie sich wenden?

Sachsse: Es gibt keine psychiatrische oder psychotherapeutische Klinik in der Bundesrepublik, die nicht mit einer größeren Zahl von Patientinnen mit selbstverletzendem Verhalten konfrontiert gewesen wäre. Ich denke, es gibt keine Kinder- und Jugendpsychiatrie, und es gibt erst recht keinen Kinder- und Jugendpsychotherapeuten, der sich mit diesem Phänomen nicht befaßt hat. Mich erstaunt das, mich wundert das, denn das Syndrom ist weitverbreitet, und genau so, wie jeder, der sich in Erziehungsberatungsstellen oder als Vertrauenslehrer mit Suchtentwicklung befaßt hat, mit Suizidalität, mit Schwierigkeiten bei Kindern, deren Eltern in Scheidung leben, dachte ich eigentlich, das Thema ist inzwischen überall durchgearbeitet. Mit Erstaunen höre ich jetzt von Ihnen, daß es immer noch Bereiche gibt, wo hierfür keine Kompetenz da ist. Das finde ich nicht gut.

Schneider: Während mittlerweile Faltblätter über Drogen und Eßstörungen mit Angabe von Kontaktadressen, Telefonnummern etc. überall bei den betreffenden Behörden, Arztpraxen o.ä. zu haben sind, war es der erwähnten Lehrerin nicht möglich, zu ihrer eigenen Information Unterlagen mit eben diesen Angaben zu erhalten. Wenn man die Flut von Informationsmaterial im Drogenbereich betrachtet, so scheint die Lehrerin mit ihrer Erfahrung nicht ganz falsch zu liegen.

Sachsse: Auf dem Hintergrund ja, da ist sicherlich noch eine Lücke. Bis jetzt hat sich noch niemand an diese Arbeit gemacht, eine informative Broschüre zu entwickeln, zu verteilen, zur Verfügung zu stellen. Das wird sicherlich auch bei mir noch auf sich warten lassen. Warum? Hineinschreiben könnte ich eigentlich auch nur: Wenden Sie sich an Ihre nächste Erziehungsberatungsstelle, an Ihre nächste Beratungsstelle für Kinder und Jugendliche. Sehr viele Suchtberatungsstellen, so glaube ich, sind inzwischen mit dem Phänomen vertraut und können erste Hinweise geben. Jeder Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut sollte, zumindest wenn er selber sich mit der Symptomatik nicht gut auskennt, wissen, wer in seinem Umfeld damit umgehen kann. Aber vielleicht schließe ich hier von der Psychiatrie oder der stationären Psychotherapie auch blauäugig auf die Situation der ambulanten Versorgung. Es kann natürlich auch sein, daß die Informationen im Zentrum einer Großstadt etwas anders sind als auf dem Land.

Schneider: Welche Erfahrungen haben Sie mit Angehörigen von Selbstverletzerinnen gemacht? Wie ist deren Reaktion und wo liegen die Probleme, Angehörigen ein für die Betroffenen unterstützendes Verständnis zu vermitteln? Könnte es sein, daß Angehörige selbst Hilfe in einer bestimmten Form benötigen? Wenn ja, von wem?

Sachsse: Die Patientinnen, mit denen ich überwiegend arbeite, haben mit nahen Angehörigen keine besonders guten Erfahrungen gemacht. Das bedeutet, daß die Angehörigen auf diese Symptomatik unsensibel reagieren, sie der Patientin allein zuschieben oder sie als das sehen, was die Symptomatik eben auch ist, nämlich als einen Vorwurf, und die Patientin dann eher drängen, das Haus zu verlassen.

Anders ist es bei Freunden und Bekannten, die die Patientin mögen, in sie verliebt sind, die sie unterstützen wollen, die ihnen innerlich sehr zugetan sind. Für die ist es oft ein großes Problem, Selbstverletzungen nicht verhindern zu können. Sie nehmen das persönlich. Sie machen sich dann Vorwürfe. Sie haben das Gefühl: Jetzt habe ich schon drei Stunden mit dir geredet, und du hast dich doch noch verletzt. Sie beziehen viel zu viel auf sich, indem sie fragen: was habe ich falsch gemacht, daß du dich verletzen mußt. Sie stellen an sich die Hoffnung und die Erwartung: wenn ich nur ein guter Partner wäre, dann brauchte meine Freundin sich nicht zu schneiden. Alles das spricht für die Partner, spricht für die Freunde, es geht aber am Problem vorbei. Durch eine gute freundliche Beziehung läßt sich sicher selbstverletzendes Verhalten erheblich reduzieren, und es ist völlig richtig, daß sehr viele Patientinnen viel stabiler sind, weil sie eine solche Partnerschaft haben.

Eine noch so gute Beziehung kann aber nicht ganz verhindern, daß Patientinnen von außen wieder irgendwie getriggert werden, das heißt plötzlich im Fernsehen irgend etwas sehen oder in einer Illustrierten etwas lesen, was sie in einen Ausnahmezustand versetzt, und dann müssen sie sich wieder verletzen, obwohl der Partner eigentlich alles richtig gemacht hat. Ein solches Verhalten erschwert es den Patientinnen auch, mit sich umzugehen. Sie fühlen sich dann zusätzlich schlecht, fühlen sich als Versager, haben auch dem Partner noch das Leben schwer gemacht.

Eine gewisse traurige Gelassenheit der Symptomatik gegenüber ist am hilfreichsten und eine gewisse Nähe und dabei gleichzeitig eine Abgegrenzheit, die sagt: Ich mag dich, ich bin da, du kannst mit mir sprechen, aber den therapeutischen Weg wirst du im wesentlichen auf deine Art und Weise gehen müssen.

Schneider: Ein nicht vorbereitetes Erfragen traumatischer Kindheitserfahrungen bezeichnen Sie in Ihrem Buch Selbstverletzendes Verhalten als "Kunstfehler". Wie lösen Sie in Ihrer therapeutischen Arbeit folgende Problematik: Im therapeutischen Alltag erlebe ich es oft, daß Klientinnen bereits in den ersten Wochen der Therapie in nächtlichen quälenden Träumen mit traumatischen Szenen konfrontiert werden.

Sachsse: Dieses Phänomen ist sehr häufig. Als Kunstfehler bezeichne ich auch nicht, darüber kurz zu sprechen, sich darüber zu informieren, sondern ein vertieftes in die Einzelheiten gehen und das Thema ausbreiten. Man kann unterscheiden: wenn ein Ereignis dadurch, daß man darüber spricht, erträglicher wird, dann ist es wahrscheinlich nicht etwas, das sich traumatisierend aus gewirkt hat, sondern es ist etwas, was im Gedächtnis, in der Erinnerung abgespeichert ist als belastendes Ereignis. Wenn das Sprechen über ein Ereignis dazu führt, daß es einem hinterher deutlich schlechter geht ein, zwei Stunden später, daß etwas in Gang gekommen ist, was man nicht mehr stoppen kann, daß das Darüberreden zu sogenannten Intrusionen, zu Flashbacks, zu Ausnahmezuständen führt, dann ist dieses Ereignis sehr wahrscheinlich nicht integriert. Es führt eine Art Eigenleben in der Erinnerungsspeicherung, und ein Gespräch ist dann ein Trigger, der unerträgliche Zustände auslöst.

In diesem Falle würde ich immer zu einer Patientin sagen: wir werden uns diesem Thema sehr gründlich, sehr genau und sehr kontrolliert zuwenden, aber vorbereitet. Dieses Thema ist so etwas wie eine Tretmine, und wenn man irgendwo eine Mine entdeckt, geht man ja auch nicht gleich darauf zu und zieht sie aus dem Boden, weil sie dann nämlich explodieren könnte. Man sichert das Feld gründlich ab, bereitet sich vor und geht dann ganz vorsichtig an dieses Thema heran.

Das würde bedeuten, mit der Patientin zunächst Stabilisierungsübungen zu machen, Tresor-Übungen, mit denen sie lernt, diese schlimmen Erfahrungen zunächst wegzupacken, um dann mit einer der Trauma-Expositionstechniken das traumatische Ereignis aufzuarbeiten, einer Synthese zuzuführen, so daß es hinterher Bestandteil der Erinnerung ist, über die man sprechen kann, ohne daß dies Symptome hervorruft. Das ist ein spezifisches Vorgehen, was sich unterscheidet von den bisherigen Therapiestrategien, und es ist ein Beispiel, was zeigt, es ist zwar meistens gut, über etwas zu sprechen, aber leider eben nicht immer.

Schneider: In Ihrem Buch Selbstverletzendes Verhalten wird deutlich, daß die Fixierung ein doch häufig eingesetztes Mittel ist, um selbstverletzendes Verhalten der Patienten zu vermeiden. Halten Sie es demnach eigentlich für angemessen, sich selbst verletzende Klientinnen ambulant zu therapieren bzw. in Einrichtungen, wo die Möglichkeit der Fixierung nicht besteht?

Sachsse: Das Buch ist 1993 geschrieben worden, und im Vorwort zur 4. Auflage habe ich 1997 deutlich gemacht, daß ich die intensiv beziehungszentrierte Arbeit mit diesen Klientinnen und Patientinnen inzwischen nicht mehr so gut finde wie die traumazentrierte Arbeit, die ich im ersten Teil beschrieben habe.

Der Rückgriff auf Fixierungen ist in den letzten Jahren in unserer Klinik eher selten geworden und ist jetzt die Ausnahme. Wir sind sehr viel gelassener dabei, oberflächliche, nicht entstellende Selbstverletzungen eine Zeitlang zu akzeptieren, und wenn eine Patientin vertragsfähig und absprachefähig bleibt, dann ist es nicht geboten, sie zu fixieren und sie ihrer Freiheit zu berauben. Fixierung ist dann erforderlich, wenn eine Patientin völlig den Realitätsbezug verloren hat, beispielsweise mit dem Kopf durch eine Glasscheibe geht und in Gefahr ist, Arterien zu verletzen und zu verbluten, wenn sie mit Worten nicht mehr erreichbar ist, auch nicht mit Techniken, die aus der Hynotherapie kommen, also mit dem, was man mit sich-auf-die-Patientin-Einschwingen, pacing nennt.

Wenn also alle diese Mechanismen versagen und die Patientin ein Verhalten aufweist, in dem sie sich akut gefährdet, ist die Fixierung das kleinere Übel, aber es ist der letzte Ausweg. Auf unserer Station haben wir keine Möglichkeit zur Fixierung. Wir haben dort 18 Patientinnen, aber es ist eher selten, daß wir jemanden auf die geschlossene Abteilung verlegen müssen.

Es gibt aber auch eine andere Situation, nämlich die, daß eine Patientin darum bittet, fixiert zu werden. Sie sagt " Ich möchte mich nicht verletzen, ich möchte diesen Zustand durchstehen. Ich weiß, nach 2-3 Stunden ist er vorbei, und es wäre mir eine Hilfe, wenn ich in dieser Zeit fixiert würde". Dann sprechen wir darüber, ob das möglich ist, und führen eine Fixierung auf einer geschlossenen Station auf eigenen Wunsch durch.

Später lernen diese Patientinnen dann, Krisensituationen dadurch zu bewältigen, daß sie sich vorstellen, für 2-3 Stunden fixiert zu sein, sich einfach auf die Couch legen, eine CD auflegen und auf Wiederholung schalten, die Arme hinter den Rücken legen und sagen: für die nächsten 3 Stunden bin ich fixiert, um durch diese Situation hindurchzukommen. In diesem Falle fixieren wir eine Patientin auf deren Auftrag hin. Die Patientin gibt dazu den Auftrag, und unter diesen Voraussetzungen kann das auch hilfreich sein. Man muß sich immer klarmachen, daß eine Fixierung eine Hilflosigkeit herbeiführt, und Hilflosigkeit führt zu traumatischen Situationen.

Deshalb bedarf es einer gründlichen Abwägung, bevor man beschließt, eine Patientin erneut zu traumatisieren. In Ausnahmefällen bleibt einem nichts anderes übrig, um Leben zu retten.

Schneider: Nehmen wir an, die Möglichkeit einer Fixierung besteht in einer Einrichtung jedoch nicht. Was würden Sie empfehlen? Verbringung in die Psychiatrie für eine Nacht, wo Fixierung möglich ist?

Sachsse: Diese Entscheidung ist leider häufig eine Frage der Personalausstattung. Sofern zwei oder drei Nachtwachen zur Verfügung stehen, kann die Alternative zur Zwangseinweisung oder zur Fixierung durchaus eine Einzelsitzwache für die ganze Nacht sein. Auf diese Möglichkeit greifen wir innerhalb der Klinik auch oft zurück, damit sich Patientinnen nicht an Fixierungen gewöhnen. Dann machen wir Sitzwache oder Einzelbetreuung, und es hat durchaus den Charakter davon, jemanden ein wenig zu beschatten. Wenn das in einer Institution möglich ist, dann ist das allemal einen Versuch wert. Hier ist aber auch immer die Frage, wieviel Geld, wieviel Personal, wieviel Stellen stehen für schwerkranke und für problematische Jugendliche zur Verfügung.

Sofern eine Mitpatientin oder eine Mitbewohnerin eine andere Problematik hat, eine andere Lebensgeschichte hat, einen anderen Schwachpunkt hat als diese traumatisierten Patientinnen, kann es sehr gut möglich sein, daß sie stützt, hilft und unterstützt. Sofern sie eine ähnliche Lebensgeschichte hat, besteht die Gefahr, daß die Patientin, die gerade dekompensiert ist, die andere triggert, die andere anstößt, die andere mit runterzieht. Das sind ganz unglückliche Verläufe. Dann ist eine Patientin in der Krise, die zweite versucht, ihr zu helfen, und kommt dadurch selbst in die Krise. Dann hat die zweite das Gefühl, ich hab mal wieder versagt, die erste hat das Gefühl, ich habe die andere krank gemacht und mit runtergezogen. Beide haben ein schlechtes Gewissen, beiden geht es schlecht, und sie sind in Ausnahmezuständen. Und jetzt kümmern sich Patientin 3 und 4 darum, so daß es in einer Nacht passieren kann, daß eine ganze Station aus den Fugen gerät.

Deshalb haben wir bei uns auf Station die dringende Empfehlung bzw. die Norm: sprechen Sie nicht über Ihre traumatischen Erfahrungen miteinander, triggern Sie sich nicht, und sprechen Sie nicht miteinander über Ihre Symptome. Sprechen Sie über alles, über Kindererziehung, Kochen, Pflanzen, Berufswege, Politik, aber nicht über diese beiden Themenfelder, sondern bringen Sie Ihre Lebenserfahrungen und die Symptomatik in die therapeutischen Arbeitsfelder hinein.

Dies mag, glaube ich, für Kinder und Jugendliche unmöglich sein. Die sprechen miteinander, tauschen sich aus. Diese Norm wäre auf einer Jugendlichen-Station unmöglich, sie gilt für die Arbeit mit Erwachsenen.

Schneider: Wie schätzen Sie es ein, wenn die Abstände des selbstverletzenden Verhaltens einer Klientin sich zwar deutlich vergrößern, die Schnitte dann jedoch tiefer werden als je zuvor?

Sachsse: Eine Erfahrung, die ich auch selbst oft gemacht habe – es ist ein Gesundungsschritt. Ich schätze es so ein, daß die Stabilität insgesamt wächst, daß die Patientin längere Zeit auf die Symptomatik verzichten kann und daß die Symptomatik nicht mehr so gut wirkt, denn sonst brauchte sie sich nicht so tief und so heftig zu verletzen. Das bedeutet, es bedarf jetzt schon einer tieferen Noxe, einer schlimmeren Schädigung, einer heftigeren Traumatisierung des Körpers, um den früheren Effekt zu erreichen.

Offenkundig ist der Körper entwöhnt, er reagiert nicht mehr so wie früher, so daß diese Entwicklung darauf hinweist, daß die Symptomatik sich bessert. Das bedeutet nicht, daß sie auf einen Schlag weg ist, oder aber, daß es nicht zu Rückfällen kommt, aber sie verändert sich, und es ist ein manchmal belastender, aber mittelfristig zu begrüßender Zwischenschritt


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