(Fortsetzung)

Trauma, Trauma-Coping und Posttraumatische Belastungsstörung:
Theorie und Therapeutische Ansätze [Teil 2 von 3]

Tonbandabschrift des Vortrags auf dem Further Fortbildungstag "Schwere Traumatisierungen — wie bewältigen?" vom 7. Oktober 1998

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Normale und pathologische Traumaverarbeitung

Was Sie hier (auf der Folie, die Red.) sehen ist die sog. "Horowitzkaskade". Das wichtigste Wort steht hier oben links, das ist das Wort: "normal". Man hat sich nämlich in der Beschäftigung mit dem Thema der Traumatisierung auch gefragt: "Wie wird ein traumatisches Ereignis denn normalerweise verarbeitet? Gibt es so etwas wie eine Normalität im Ablauf der Verarbeitung?" Ich will ein ganz alltägliches Beispiel nehmen: Heute Abend gehen Sie nach Hause, noch so in Gedanken und dösen so vor sich hin und überqueren den Zebrastreifen, Sie sind im Recht und werden angefahren. Ein Auto bremst, Reifen quietschen, und Sie liegen auf der Straße. Was passiert dann? Die erste Reaktion könnte sein, daß Sie "Arschloch!" schreien. Wenn Sie gut erzogen sind, unterdrücken Sie das -so etwas sagt man nicht!- und Sie haben damit im Grunde genommen schon den ersten Teil getan, um keine normale Reaktion zu haben. Wenn Sie irgendwo in Italien oder Griechenland aufgewachsen sind, dann dürfen Sie das schreien, hier in Deutschland ist das nicht so gut. Nach diesem Vorfall kann es sein, daß Sie schlagartig hellwach sind. In sehr vielen Fällen kommt in so einer Situation nämlich plötzlich ein Zustand, den man als Hypervigilanz, als "besonders wach sein", bezeichnet. Sie sind ganz konzentriert, spüren nichts mehr, Ihnen tut auch nichts weh und Sie erleben einen leichten, fast hypomanischen Rauschzustand. Angeblich – ich persönlich stamme wie gesagt aus dem westfälisch-niedersächsischen Flachland – kann man auch beim Bergsteigen in solche Zustände rein kommen.

Dieser Zustand ist bedingt durch einen Noradrenalinstoß, der dazu führt, daß Sie plötzlich hellwach sind. Noradrenalin ist nun wichtig zum Lernen. Tiere lernen nur unter Streß, d. h.: Wenn Sie einem Tier etwas beibringen wollen, in einem Tierexperiment z.B., dann müssen Sie es unter leichten Streß setzen. Nur dann wird Noradrenalin ausgeschüttet, und nur dann kann das Tier etwas lernen und sich etwas merken. Ohne Streß lernt ein Tier gar nichts. Das kennen wir Menschen auch, so ein bißchen Lampenfieber vor einem Vortrag oder etwas Angst vor der Prüfung oder leichter Streß vor irgendeiner Anforderung ist gar nicht so schlecht. Dann sind die Leistungen besser. Das liegt daran, daß dann in uns ein gewisser Noradrenalinspiegel besteht, und mit Noradrenalinspiegel merken wir uns Sachen besser.

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich das Lernen und das Gedächtnis insgesamt genauer anzusehen. Niemand von Ihnen lernt heute so, daß innerlich ein Tonband mitläuft oder ein Video, das heißt: Sie werden sich hinterher nicht präzise, nicht einmal bei der Mittagspause, an einzelne Sätze oder an präzise Formulierungen erinnern können, vielleicht an ein, zwei Bemerkungen. Aber ansonsten nehmen Sie mehr so eine Art "Eintopf", einen "Informationseintopf" mit und verarbeiten den weiter.

Das wäre jetzt völlig anders, wenn hier oben etwas herunterfallen und mich erschlagen würde. Wenn das geschähe, dann hätten Sie Schwierigkeiten, dieses Ereignis für den Rest Ihres Lebens wieder zu vergessen. Das wäre etwas, das sich plötzlich eingebrannt hätte, daran würden Sie sich erinnern wie an ein Dia oder wie an einen Kurzfilm, an eine kurze Sequenz, vielleicht auch an den Aufschrei, all das wäre in Ihrem Gehirn abgespeichert. Es sieht so aus, als ob zuviel Noradrenalin in so einer Situation zuviel des Guten ist, so daß das Gehirn zuviel lernt, zuviel behält, in einer Form sich Sachen merkt, die unphysiologisch ist, nämlich in Form von Dias oder in Form von kurzen Bildstreifen.

Das entspricht nicht dem normalen Lernen. Das normale Lernen – das können Sie bei Manfred Spitzer ("Geist im Netz") lesen – ist immer sofort Verarbeitung. Sie lernen nie unverarbeitet sondern Sie fangen sofort mit der Verarbeitung an. Zurück zum Zebrastreifen: Sie haben die Situation im Griff: Sie sind ruhig, stehen auf, beruhigen den Autofahrer, der ein schlechtes Gewissen hat, Sie rufen die Polizei an, der Krankenwagen kommt, die "Sanis", die kennen das schon, die fragen dann: "Wer hat denn hier den Unfall gehabt? Ach Sie, ja mhm. Na, ist ja gut, daß wir jetzt da sind, dann setzen Sie sich mal hin". "Nein, nein", sagen Sie dann, "mir geht's bestens und kümmern Sie sich mal um den Autofahrer, dem geht's ja viel schlimmer, der ist ja mitten im Schock". Die "Sanis" sagen dann: "Ja, das machen wir auch, aber legen Sie sich erstmal ruhig hin". Die Sanitäter wissen ja, daß das sofort in einen Schockzustand übergehen kann.

Aber wenn Sie das alles überstanden haben – wenn Sie die Notaufnahme überstanden haben, den diensthabenden Arzt überzeugt haben, daß Sie nicht eine Nacht bleiben müssen, die Polizei hinter sich gebracht haben – und wenn Sie dieser Zustand nach Hause begleitet hat, dann kann es sein, daß Sie sich hinsetzen, tief Luft holen und sich sagen: "Na, das ist ja nochmal gut gegangen". Sie schenken sich ein Bier oder einen Wein ein, legen sich eine CD auf, legen die Beine hoch – und plötzlich fangen Sie an zu zittern: Sie kriegen einen Zitteranfall, das Herz fängt an zu rasen, sie bekommen Schweißausbrüche, Sie werden plötzlich ganz unruhig; und es kann sein, daß Sie plötzlich wieder mitten in der Situation sind, mitten drin und zwar schlimmer als auf dem Zebrastreifen selbst.

Dieser Zustand, der als Intrusion oder Flash back bezeichnet wird, ist es offenkundig, der die Verarbeitung traumatischer Erfahrungen so schwierig macht. Wenn so etwas passiert, daß sich aufgrund des Überadrenalinzustandes etwas einbrennt, etwas richtig im Gehirn festsetzt, dann ist die Verarbeitung dieser Erfahrung nicht so einfach wie die Verarbeitung dieses Vortrags in dieser Sporthalle: Vielleicht träumen Sie heute Nacht noch davon, daß eine Basketballmannschaft spielt und der Schiedsrichter einen Vortrag hält oder so etwas Komisches. Sie bringen dabei all diese unterschiedlichen Informationen durcheinander und müssen erstmal verträumen, daß ein Vortrag auf einem Basketballfeld stattfindet; aber das ist nicht das Problem, davon werden wir nicht wach. Wenn mir hier – wie gesagt – der Himmel auf den Kopf fallen würde, dann wäre das anders, dann würden Sie vielleicht heute abend so eine Intrusion oder so einen Flash back bekommen. Oder aber, wenn Sie sich schlafen legen, die Augen zumachen, dann steht Ihnen die Szene wieder vor Augen, Sie können nicht einschlafen, oder aber, Sie träumen das nachts und werden davon wach. Es läuft so ab, wie es abgelaufen ist und zwar als Video, unverarbeitet. Wenn sich diese Intrusion festsetzt, wenn sie nicht verarbeitet werden kann, dann kann das bis zum Zustand der Hypermnesie gehen, der nicht mehr loszuwerdenden Erinnerung. Das entspricht dem, was Menschen, die in Konzentrationslagern gewesen sind, oft beklagt haben, daß sie diese Gedanken und Bilder nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Hypermnesie heißt Übererinnerung,- Amnesie heißt, daß man kein Gedächtnis hat, und Hypermnesie würde bedeuten, daß man zuviel erinnert.

Die Intrusionen sind nun also das Problem. Sie können uns abends Angst machen, wir trinken dann etwas mehr, gehen zum Hausarzt, der verschreibt uns Valium oder ein Schlafmittel oder er sagt: "Machen Sie mal Urlaub." "Nein, nein," sagen Sie, " ich gehe besser gleich wieder zur Arbeit, da bin ich wenigstens abgelenkt." Diese Flashbacks und Intrusionen sind in vielen Filmen ganz gut verarbeitet. Da kann man sich das ganz gut bildlich vor Augen führen. Überhaupt spielt ja Trauma und Traumaverarbeitung nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch im Kino eine gewisse Rolle, von "Titanic" über "Speed I" und "Speed II", "Vulcano", "Deep Impact", "Armaggeddon": immer geht es um Katastrophen und um Traumatisierungen. Dabei sind die verschiedenen Zustände, die mit Traumata zu tun haben, immer personifiziert: Dieser Zustand der Hypervigilanz und Emotionslosigkeit, das ist im allgemeinen der Held, das ist Bruce Willis oder Arnold Schwarzenegger. Dann gibt es die Emotionsbestimmten wie etwa Sandra Bullock, meistens Frauen, die schreien und die Orientierung verlieren und die dann den Menschen mit Hypervigilanz brauchen, der die Übersicht behält. Weiterhin gibt es die Stuporösen, die depressiv sind und in der Ecke sitzen, die brauchen dann auch diesen Menschen, der abgeschaltet ist. Das ist ein ganz interessantes Szenarienprinzip.

Flashbacks können Sie gut sehen in dem Film "Mercury Puzzle" mit Bruce Willis – Sie merken schon, den sehe ich ganz gerne -: Bruce Willis hat als Polizist versucht, einen jugendlichen Straftäter zu retten, der aber neben ihm erschossen worden ist. Er kommt abends nach einem anstrengenden Tag nach Hause, wie es offenkundig immer so bei ihm ist im Film, er schaltet ab und dann kommt wieder die ganze Szene. Und diese Szene ist etwas farblich verändert, so ein bißchen schwarz-weiß-bunt, und sie läuft zeitlupenähnlich ab, langsam, gedehnt, zeitlich in einer anderen Welt, man hört seinen Herzschlag. Er ist in dieser Szene wieder drin, er sitzt auf dem Sofa und reibt sich die Hände, er hat einen Schweißausbruch und macht dann etwas, was viele Menschen tun, die unter einem solchen Symptom leiden: Er steht auf, knallt die Tür zu, macht einen Zug durch die Gemeinde und knallt sich den Kopf voll. Alkohol ist ein gutes Medikament gegen Flash backs und Intrusionen. Ein anderer Film, in dem Flash backs und Intrusionen verfilmt worden sind, ist beispielsweise "Angeklagt" mit Judie Foster, die ebenfalls unter intrusiven Zuständen leidet.

Mit diesen Intrusionen muß man nun also fertig werden, man muß sie irgendwie verarbeiten. Die normale Verarbeitung besteht darin, daß man sie erstmal verträumt – und das ist mir ganz wichtig. Leute, die traumazentriert arbeiten, haben einen bestimmten Glauben, der auch einige neurophysiologische Unterstützung erfährt. Sie glauben, daß das menschliche Gehirn, wenn es funktioniert und gesund ist und seine Arbeit machen kann, nachts im Traum Sachen erledigt und abarbeitet. Sie glauben daran, daß der Traum so etwas ist wie eine Informationsschnellkompostieranlage. Ich habe das vorhin schon als Beispiel gebracht: Sie träumen, daß eine Basketballmannschaft Basketball spielt, und der Schiedsrichter hält einen Vortrag. In diesem Traum wären widersprüchliche Informationen durcheinandergeworfen und verarbeitet. Eigentlich sind wir nachts zwei- bis dreimal psychotisch: wir hören Stimmen, wir sehen Bilder, sind delirant, das Gehirn spielt verrückt. Morgens werden wir wach, unser Frontalhirn hat sich alle Mühe gegeben, daraus einen sinnvollen Traum zu machen – man nennt das sekundäre Traumarbeit, Freud hat diese Prozesse sehr gut geschildert und dargestellt. Die einzelnen Abläufe sind verarbeitet und irgendwie eingebaut worden.

Genau das aber fällt mit traumatischen Erfahrungen schwer. Die laufen wieder und wieder ab und sind schlecht zu verträumen – das ist das Problem. Wenn es gut geht, dann gibt es erst ein Video, wir werden wach, dann gibt es nochmal ein Video, wir werden wach, und dann wird das Video allmählich zum Alptraum. Dieser Alptraum ist schon die erste Verarbeitung, und nach und nach verträumen wir die Sache.

Es gibt aber auch die Situation, daß wir das Ganze in den Dialog bringen, daß wir darüber reden. Unsere Umwelt reagiert auf eine traumatische Erfahrung polar: Die eine Gruppe sagt: "Darüber mußt Du reden, das muß raus! Komm, erzähl doch mal, Du hast es zwar schon fünfmal erzählt, aber wir sind ja gut befreundet, erzähl es noch mal! Wie war das denn auf dem Zebrastreifen? Erzähl nochmal. Es geht Dir ja immer im Kopf rum, das geht ja nicht."

Innerseelisch schwanken Menschen nach einer traumatischen Erfahrung zwischen zwei Zuständen: Da ist einmal der Zustand der Intrusion und zum andern der Zustand der Konstriktion. Das ist ein bißchen etwas anderes als die Hypervigilanz, aber was auch dazu gehört, ist der Zustand des Abgeschaltetseins: Die Gefühle sind wie betäubt, man ist irgendwie in einem dumpfen Zustand, nichts erreicht einen mehr so recht, ob nun Herbst oder Sommer ist, es ist ziemlich egal, das Essen schmeckt immer gleich schlecht, über Witze kann man nicht so recht lachen, man ist so etwas in Watte. Es ist ein subdepressiver Zustand, es tut einem irgendwie körperlich auch alles weh. Es ist ein Zustand von Abgeschaltet-sein.

In diesem Pendeln zwischen Konstriktion, Intrusion, darüber reden, sich ablenken und davon träumen wird eine solche Erfahrung in einem Vierteljahr langsam verarbeitet. Daß eine solche Verarbeitung aber auch länger dauern kann, wissen wir, wenn wir uns klar machen, daß das Trauerjahr etwas Sinnvolles ist. Letztlich ist die Traumaverarbeitung nichts anderes als ein Trauerprozeß, der ganz ähnlich abläuft mit intrusiven und mit depressiv-konstriktiven Zuständen, und er dauert bis zu einem Jahr. Das wußten die Menschen, und deshalb war dieses Jahr früher der Trauer gewidmet. Heute müssen wir ja nach einem Trauerfall drei Tage später wieder voll arbeitsfähig sein; das ist nicht dem menschlichen Wesen angemessen. Wir tun uns auch sicherlich damit Gewalt an.

Das also ist die normale Verarbeitung eines Monotraumas, eines Typ-I-Traumas, wobei schon diese Verarbeitung Schwierigkeiten bereiten kann. Es kann sein, daß jemand es nicht schafft, seine Erfahrung irgendwie zu verarbeiten: er kann nicht darüber reden, man glaubt ihm nicht, er hat keine Gesprächspartner, er kann sich nicht so richtig ablenken, er ist nicht in der Lage, seine Träume auszuhalten, er betrinkt sich häufig oder nimmt viele Medikamente. Wenn die Intrusionen nicht verarbeitet werden, dann können sie getriggert werden, d.h.: Sie können angestoßen werden. Dann kann jemand so verrückte Verhaltensweisen entwickeln wie gerade bei einem Zebrastreifen nicht über die Straße zu gehen, oder Umwege zu machen, um keine Zebrastreifen zu sehen. Oder er entwickelt irgendwelche Zwangsrituale: erst muß viermal nach rechts und links geguckt werden, bevor er über den Zebrastreifen gehen kann.

Nicht hinter jeder Phobie, nicht hinter jedem Zwangsritual, nicht hinter jedem depressiven Zustand, nicht hinter jeder Sucht steht ein schweres Trauma. Es ist aber hilfreich, dies als eine Möglichkeit mit zu bedenken, als etwas, was neben der Entwicklungspathologie und neben der Konfliktpathologie als Traumaätiologie in Frage kommen kann, insbesondere dann, wenn die Symptome sich nicht so gut auf die Kindheit beziehen lassen, wenn das eigentlich nicht so richtig stimmt. In solchen Fällen war es oft so, daß wir gesagt haben – ich selbst bin ja auch Psychoanalytiker: "Da muß doch was sein. Ja also, der verleugnet seine Kindheit, der sagt, die Kindheit war ganz schön, katastophal war die Pubertät oder der Militärdienst oder so irgendetwas. Das geht doch nicht, das ist doch eine frühe Störung, eine schwere, recht frühe Störung." Dieses Vorgehen ist sicher falsch. Gerade dann, wenn die Anamnese und die Kindheitsgeschichte nicht so richtig passen zur Schwere der Symptomatik, dann sollte man sich auch mal fragen:"Hat es vielleicht zwischenzeitlich einige gravierende Traumata gegeben? Hat es irgendwelche Erfahrungen in der Pubertät gegeben?"

Ich habe Frauen behandelt, die hatten eigentlich eine recht stabile Kindheit und Jugend, haben dann aber aus Trotz, aus Auflehnung einen Partner gewählt – nach dem Motto: "Wir sind die Leute, vor denen uns unsere Eltern immer wieder gewarnt haben." – einen Partner, der den Eltern nun wirklich nicht gefiel und paßte, und die mit diesem Partner zwei scheußliche Jahre erlebt haben. Diese Frauen waren auch sehr durcheinander, haben sich selbst verletzt und geschnitten. Es ist nicht alles "frühe Kindheit".

Besonders schwierig wird es dann, wenn es sich nicht um ein unvorhergesehenes, unvorhersehbares Monotrauma handelt, sondern wenn Sie in einer Lebenssituation sind, in der Sie damit rechnen müssen, traumatisiert zu werden: Wenn Sie z.B. in einem Gefängnis sind, in dem Sie gefoltert werden, wenn Sie in Isolationshaft sind, wenn Sie in einer Familie sind, wo Sie damit rechnen müssen, in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen traumatisiert zu werden – und sich darauf schon einstellen können. An dieser Stelle komme ich wieder zurück zu der Sache mit den Schützengräben. Es ist ganz wichtig, sich klar zu machen, daß Hilflosigkeit biologisch im Tierreich nicht so richtig vorkommt. Wenn ein Tier in Lebensgefahr kommt und weder die Möglichkeit zum Kampf noch zur Flucht hat, kann es sein, daß das Tier stirbt. Jäger berichten von folgendem: freies Feld, irgendein Kaninchen flüchtet, ein Raubvogel greift an, der Jäger schießt in die Luft, den Vogel schießen darf er ja nicht mehr unter den Naturschutzbedingungen, der Vogel dreht ab, der Jäger geht über's Feld und das Kaninchen ist tot, obwohl der Raubvogel das Kaninchen gar nicht erreicht hat.

Das kann man natürlich auch im Tierexperiment machen: Man setzt ein Kaninchen unter eine Glasglocke, läßt einen Vogel angreifen, und in einem statistisch gar nicht so seltenen Ausmaß ist es nicht nur so, daß das Kaninchen sich tot stellt (Totstellreflex als erster Selbstschutzschalter), sondern tatsächlich tot ist. Das bedeutet: Lebensgefahr ist lebensgefährlich. Innerseelisch scheint es Mechanismen zu geben – wohl überwiegend über eine massive Kalziumausschüttung –, die dazu führen, daß Tiere in Situationen, in denen sie damit rechnen müssen, getötet zu werden, sich selbst töten – ein sinnvoller Schutz gegen den Schmerz beim gefressen oder getötet werden.

Wir sind Säugetiere, und unsere Streßphysiologie ist ebenfalls darauf ausgerichtet, zu kämpfen oder zu flüchten. Ich komme später noch auf die Streßphysiologie und die hirnphysiologischen Veränderungen zu sprechen.

Jetzt erstmal zum seelischen Ablauf: Wichtig ist mir das Zwischenergebnis: Völlige Hilflosigkeit in einer Situation der Lebensgefahr ist für Säugetiere potentiell lebensgefährlich. Das ist wesentlich, im Hinterkopf zu behalten. Der Inescapable-Schock ist etwas, was nicht gut ist. Wir Menschen haben nun eine Möglichkeit, die auf der einen Seite unser Segen ist, auf der anderen Seite unser Fluch. Tierforscher sagen, der Mensch hält einfach zu viel aus. Was Menschen Menschen schon angetan haben, das hätte keine Tierpopulation, keine Tierrasse überlebt. Diese Tiere gäbe es einfach nicht mehr. Wir Menschen halten zu viel aus, wir ertragen zu viel! Und zwar deshalb, weil bei uns die kognitiven Strukturen, das Frontalhirn, einen sehr großen Einfluß haben.

Mit diesen kognitiven Strukturen können wir umschalten. Wir können die Realität verändern. Wir können sagen: "Ich bin gar nicht da, ich schalte ab". Wir können induziert depersonalisieren, können sagen: " Ich steige aus meinem Körper aus, ich stehe daneben, ich nehme das gar nicht wahr, was mit meinem Körper geschieht." Und wir können induziert derealisieren: Dann sind wir in einer anderen Welt. Gefangene in einer engen Zelle erschaffen sich eine riesige Phantasiewelt, in der sie ihren Raum verlassen können. Diese Möglichkeiten haben wir.

Diese Möglichkeit ist nun eine Überlebensstrategie bei schwerer Traumatisierung. Viele, die mißhandelt und mißbraucht worden sind, berichten: "Ich bin dann oben auf dem Schrank gesessen und habe das nur noch von oben gesehen. Ich bin neben mir gestanden, ich war ganz wo-anders." Es gibt ein sehr beeindruckendes literarisches Beispiel für kindliche Dissoziativität, nämlich "Alice im Wunderland" und "Alice hinter den Spiegeln". Der Autor Lewis Carol ist bekannt als pädophiler Autor, der möglicherweise Erfahrungen und Szenen von Kindern (auch sich selbst?), die in bestimmten Situationen dissoziiert haben, literarisch verarbeitet hat. Auf der einen Seite sind "Alice im Wunderland" und "Alice hinter den Spiegeln" literarische Kunstwerke, auf der anderen Seite ist das keine normale kindliche Phantasietätigkeit mehr; da ist so viel Morbides, Kaputtes, Krankes enthalten, das ist eine Flucht. "Alice hinter den Spiegeln" beginnt ja auch so, daß das Mädchen hinter den Spiegel gehen kann. Das ist eine Dissoziation, ein induzierter Derealisationszustand, in dem sich Alice dann in einer ganz anderen Welt aufhält – und das wird schon seinen Grund gehabt haben. Solche Prozesse ermöglichen uns das Überleben oft schwerer Traumatisierungen.

Man hat festgestellt, daß es umso wahrscheinlicher ist, daß wir eine chronifizierte posttraumatische Belastungsstörung bekommen, je besser wir in der traumatischen Situation dissoziieren. Das ist das Dilemma: Je besser akut die Dissoziation klappt, umso schwerer fällt die Verarbeitung. Was nämlich jetzt im Gehirn gespeichert ist als – wie ich gerne sage – "Erinnerungsabszeß" und was nicht verarbeitet werden kann, ist nicht die traumatische Erfahrung, sondern ein Konglomerat aus Fetzen des Traumas, der traumatischen Situation und der Dissoziation, eine Mischung aus Depersonalisation, Derealisation und Fetzen der traumatischen Erfahrung.

Das wird dann evtl. getriggert, durch Gewitter, durch knarrende Bohlen, durch plötzliche Dunkelheit, durch einen Knall oder sonst etwas, und das bedeutet, daß dann die Zustände nicht klassische Intrusionen sind, sondern eine Mischung aus Trauma und Verarbeitung. Es stellt sich ein Zustand ein, der gekennzeichnet ist durch Depersonalisation und Wirklichkeitsverlust, die Wahrnehmung verändert sich, alles kommt durcheinander und die Leute brechen ein, ticken aus, rasten weg, sind im falschen Film, haben einen Erregungszustand und können sich nicht mehr orientieren. Dieser Zustand des Kontrollverlustes ist ausgesprochen beunruhigend und ängstigend.

Ich stelle mir das so vor – und die Patientinnen haben mir das bestätigt –, als wenn ich in einem fremden Raum übernachte: es ist ganz dunkel – ich sorge inzwischen dafür, daß das nicht mehr der Fall ist –; dann passiert es oft, daß ich Alpträume habe, ich werde wach, es ist dunkel, und ich muß erstmal suchen, bis ich die Nachtischlampe finde, und bis dahin läuft der Traum weiter; und ich bin aber schon wach, und das ist ein übler Zwischenzustand, in dem ich schon wach bin und der Alptraum noch weiterläuft. Dann mache ich das Licht an, und dann ist es wieder gut: "Aha, hier bin ich, wie komme ich denn hier hin, ach so, ja ...", und dann komme ich langsam wieder in die Realität zurück und der Alptraum ist zu Ende.

Jetzt stellen Sie sich einfach vor, der Alptraum hört nicht auf, sondern läuft weiter; dann haben Sie meines Erachtens den Zustand einer Patientin, die getriggert ist, bei der dissoziative Zustände da sind und die in zwei Wirklichkeiten gleichzeitig ist. Das ist ein scheußlicher Zustand – ich werde gleich noch erläutern, warum Sie mit Worten dabei so wenig erreichen können -, und dieser Zustand läßt sich gut beenden, nämlich durch einen Hautschnitt. Ich wüßte gerne, warum. Aber das beste Antidissoziativum ist eine Selbstverletzung der Haut. Innerhalb von 15 bis 30 Sekunden, manchmal dauert es auch eine Minute, ist der Kopf wieder klar, die Affekte sind geordnet, die Sprache steht wieder zur Verfügung, der Druck ist raus, die Leute haben sich abgeregt, sie sind wieder in der Gegenwart und die ganze Sache ist vorbei. Manchmal muß tiefer geschnitten werden, aber es wirkt. Und es wirkt nichts anderes. Wir haben bisher kein Medikament, was sicher antidissoziativ wirkt. Wir haben kein Antidissoziativum.

Mich interessiert, welche biochemischen Prozesse dabei eine Rolle spielen. Endorphinausschüttung kann es nicht unbedingt sein, weil der Körper im Zustand der Depersonalisation schon in einem Überendorphinzustand ist. Depersonalisation ist verbunden mit einer körperlichen Endorphinvergiftung, das kann es also nicht sein. Es muß irgendeine Mischung aus peripheren und zentralen Prozessen sein, die dadurch in Gang gesetzt werden und die nach 15 bis 30 Sekunden zur Wirkung kommen, eine Selbstmedikation. Das macht den Umgang mit der Symptomatik nicht so ganz einfach; denn man kann nicht so leicht darauf verzichten, und das führt jede Klinik immer wieder in die neue Diskussion: Konzentrieren wir uns auf das Symptom oder schieben wir es beiseite? Es gibt verschiedene Strategien, darauf kann ich im Rahmen der Therapiediskussion noch zu sprechen kommen.

Vor der nächsten Diskussionsrunde ist mir wichtig, daß wir uns klar machen, daß es inzwischen eine Reihe von Befunden gibt, die die Diskussion um eingebildetete Kranke oder darum, daß die sich ja nur anstellen, relativieren.

Zunächst ist die Frage wichtig: Was ist die normale Streßphysiologie? Rufen wir uns das nochmal ins Gedächtnis: Normalerweise kommt ein Impuls ins Gehirn, und gerät ziemlich bald zum Mandelkern, der Amygdala. Der Mandelkern ist der "Rauchmelder des Gehirns". Das ist sozusagen die Alarmglocke, wodurch die Streßachse anspringt. Diese Streßachse führt dazu, daß Noradrenalin ausgeschüttet wird, wir sind in einem Übererregungszustand, in einem Hyper-Arousal-Zustand, und zwar bevor wir überhaupt bewußt registriert haben, was los ist. Es dauert nämlich 5 bis 7 Zwischenneurone, bis das Frontalhirn gemerkt hat, was Sache ist. Das wäre viel zu langsam, das muß viel schneller gehen. Unser Körper schaltet also schon auf Hyper-Arousal, auf Übererregung, bevor wir bewußt mitbekommen haben, was Sache ist.

Wiederum heute abend gehen Sie nach Hause und plötzlich fällt ein Schuß; dann sind Sie in Aufregung und zittern und sind in einer Situation, in der Sie kämpfen könnten, bevor Sie registriert haben, daß das vielleicht ein Mofa ist mit einer Fehlzündung, so daß Sie sich also wieder abregen können. Es war nur eine Fehlzündung, also nichts Schlimmes, oder es war ein Schuß in weiter Ferne, der auch nicht schlimm ist. Es braucht aber etwas Zeit, bis das klar wird.

Was passiert nun aber bei traumatisierten Menschen? Wenn man traumatisierte Menschen triggert, indem man ihnen einen spezifischen Reiz gibt, ihnen z. B. ihre Traumatisierungsgeschichte vorliest, und dann beobachtet, wie das Gehirn arbeitet, dann gibt es einen interessanten Unterschied:

Bei gesunden, nicht traumatisierten Menschen läuft folgendes ab: Amygdala, Hippocampus. Der Hippocampus ist eine Art Ordnungssystem, in dem wird eingeteilt. Stellen Sie sich folgende Szene vor: Ein Forscher steht einem Säbelzahntiger gegenüber, beide benutzen ihren Hippocampus und teilen das Gesehene ein. Der Forscher ist am Nachdenken: "Das ist doch so eine Art Löwe", oder sollte man eher sagen: "Tiger. Eigentlich ist dieses Exemplar doch ausgestorben, wieso steht es mir denn dann gegenüber?" Das ist der Hippocampus. Der Säbelzahntiger benutzt auch seinen Hippocampus: "Wow, das Mittagessen". Beide benutzten ihren Hippocampus, um das Gesehene einzuteilen. Dann geht die Information weiter zum Frontalhirn, und dort schaltet sich beim Menschen dann die Broccaregion ein – beim Säbelzahntiger wahrscheinlich nicht –, dort kommt die Sprache dazu, und dann denken wir nach: Aha, dieser Knall ist von einem Mofa, von einem Auto, von irgendeinem Jäger oder ein Fenster ist zugeknallt oder jemand hat seine Tasche fallen lassen und dann denken wir über die Situation nach.

Was passiert nun, wenn man einen traumatisierten Menschen triggert? Die rechte Amygdala ist sehr aktiv, die linke nicht; die linke Amygdala leitet normalerweise weiter zum Frontalhirn, zur linken Hirnhälfte und zum Sprachzentrum. Beim Traumatisierten haben Frontalhirn und Sprachzentrum also Sendepause, weil die linke Amygdala inaktiv ist. Das bedeutet: Sie haben das klinische Bild in der Gehirnarbeit abgebildet, das da lautet: hochgradig aufgeregt, Hyperarousel-Zustand. Sie stehen der traumatisierten Patientin/dem traumatisierten Patienten gegenüber und sagen zu ihr/ihm: "Nun sagen Sie doch, was Sache ist, Sie können es doch sagen, sagen Sie doch, was los ist!" Und der Patient steht da und findet keine Worte, er ringt nach Worten.

Es ist klinisch lange bekannt, daß im Zustand des Hyperarousel eine hirnphysiologische Situation gegeben ist, in der das Sprachzentrum und das Frontalhirn nicht arbeiten. Am nächsten Tag sagt Ihnen dann die Patientin/der Patient: "Ja, wenn ich erstmal darüber reden kann, dann geht's auch schon wieder." Aber in der Situation selbst können Sie verbal nichts erreichen – und das ist auch ganz wichtig zu wissen –, weil beim getriggerten Patienten die entsprechenden Hirnareale praktisch gelähmt sind. Wenn man die PatientInnen mit Traumaexposition behandelt hat und dann wieder triggert, dann springt das Frontalhirn und das Sprachzentrum an.

Gleichzeitig ist es so, daß es diesen Leuten sehr schwer fällt, sich abzuregen. Um uns abzuregen, brauchen wir Cortison. Nun könnte man denken, diese Leute haben einen ständig erhöhten Cortisonspiegel. Das aber ist nicht der Fall, sie haben einen reduzierten Cortisonspiegel, wobei unklar ist, wieso. Das sind alles Befunde, die hauptsächlich bei Vietnam-Veteranen, aber auch bei Frauen mit chronischer Traumatisierung erhoben wurden.

Außerdem haben diese Menschen einen verkleinerten linken Hippocampus. Der linke Hippocampus ist nicht so aktiv, und er ist kleiner geworden als der rechte. Dafür gibt es organische Befunde sowohl bei Vietnam-Veteranen als auch bei Frauen nach schweren Vergewaltigungen. Das bedeutet, daß wir es mit einer Streßpsychosomatose zu tun haben, einer funktionellen Gehirnpsychosomatose. Die alten Gedanken von Oppenheim und Kardiner, daß es sich um eine Physioneurose, eine seelische Störung mit körperlicher Beteiligung handelt, bewahrheiten sich, worauf im Rahmen der Therapie Rücksicht genommen werden muß.

Wir können diese Menschen nicht wie Neurotiker behandeln. Die Therapiestrategien, die wir für Neurotiker mit einer überstarken neurotischen Abwehr entwickelt haben, sind nach meiner Überzeugung für Menschen mit einer dissoziativen Störung, mit einer zu schwachen Abwehr ungeeignet. Das ist aus der Arbeit mit Borderlinestörungen auch seit langem bekannt, aber da kann man durchaus noch ein, zwei Schritte weitergehen.

Soviel zur normalen und pathologischen Traumaverarbeitung, zur Streßphysiologie, zur Problematik der veränderten Informationsverarbeitung. Haben Sie dazu Fragen?

Einige Anmerkungen also zum Zustand des Inescapable-Schock, der absoluten Hilflosigkeit, der bei Menschen oft assoziiert ist mit Suizidalität. Ich habe subjektiv das Gefühl, in einer ausweglosen Situation zu sein, also will ich mir das Leben nehmen. Welche akuten Interventionsmöglichkeiten gibt es, wenn man mit solchen Menschen zu tun hat?

Als erster Schritt, zur Suizidalität wieder Abstand zu bekommen – eine sog. Metaebene herzustellen – hat sich bewährt zu versuchen, die Suizidalität umzudeuten. Ich lasse mir erstmal die Suizidalität durch den Patienten erläutern, frage zum Beispiel nach, worin die Aussichtslosigkeit besteht und so fort, und sage dem Patienten dann, daß ich denke, daß seine Suizidalität ein Signal der Seele ist, das er sehr ernst nehmen sollte. "Es ist ein Signal, daß Sie dieses Leben beenden sollten. Ich halte es allerdings für ein Mißverständnis, wenn Sie glauben, das geht nur dadurch, daß Sie Ihren Körper töten. Ich halte es für etwas, was geschehen sollte, auch geschehen muß, wobei wir gucken müssen, wie es gehen kann, aber eigentlich ist es ein Veränderungsimpuls. Sie sagen ja ganz richtig: so wie die Situation ist, ist sie ausweglos. Sie fühlen sich wie so ein Hamster im Rad oder wie jemand in einer Zwickmühle, und aus ihrer Seele kommt: "Dieses Leben muß aufhören". Das ist gesund, das ist richtig. Der Schritt aber:"Ich sollte mich töten", den halte ich für ein Mißverständnis, da müßten wir daran arbeiten, ob es nicht möglich ist, die Situation anderweitig zu beeinflussen." Dieses Vorgehen entstammt der Tradition der Hypnotherapie: Damit nehme ich erstmal die Suizidalität als solche ernst und sage dem Patienten, daß seine Situation, so wie er sie schildert, aussichtslos ist, ich rede das nicht weg. Dann müssen weitere Therapiestrategien angewandt werden. Wichtig an Ihrer Frage ist mir Ihr Hinweis, daß dieses Gefühl des unentrinnbaren Schocks oft mit Suizidalität verbunden ist.

Zur Frage nach der akuten posttraumatischen Situation: Ich bin vor kurzem bei einer Tagung gewesen, auf der verschiedene Reaktionsmöglichkeiten bei Notarzteinsätzen miteinander verglichen wurden. Eine Notarztgruppe ist so vorgegangen, daß sie versucht hat, so schnell wie möglich Analgesie, also Schmerzfreiheit herzustellen, unter Einsatz auch von Opiaten; oder man hat versucht, mit höheren Dosen an Benzodiazepinen zu arbeiten. Dabei hat sich ergeben, daß anschließend die Entwicklung von posttraumatischen Zuständen nach Verkehrsunfällen deutlich niedriger war. Das bedeutet, daß es in der akuten Situation gut ist, das medizinisch Mögliche zu tun, um diese Situation zu unterbrechen.

Das ist etwas, was ich inzwischen bei uns auf der Station mache, nach dem Motto "Ganz oder gar nicht". Ich habe keine Schwierigkeiten damit, einer Patientin 4 mg Rohypnol und 240 mg Truxal zu geben, was im Suchtbereich sicherlich etwas schwerer fallen würde. Wenn der Zustand so ist, daß jemand die Wände hochgeht und nicht mehr rauskommt, dann muß das unterbrochen werden. Kann man den Hintergrund nicht aufarbeiten, dann ist man ständig am Nachfüttern mit hoher Medikation, das ist sicher schlecht. Darauf komme ich gleich noch zu sprechen. Aber ich vertrete die Position, daß ich ein unterdosiertes Medikament auch weglassen kann. Da hätte ich nur die Nebenwirkungen, aber nicht die Hauptwirkung. Entweder ich erreiche eine Wirkung oder nicht. Es ist aber schwer, bei echten posttraumatischen Zuständen medikamentös wirksam zu sein. Im allgemeinen müssen Sie an die Obergrenze dessen gehen, was Sie sonst geben; denn es ist auch ein medizinischer Befund, daß die Medikamente in solchen Situationen nicht so richtig wirken. Die Erfahrung ist: wenn es gelingt, die posttraumatische Belastungsstörung zu behandeln, dann geht die Medikation nach unten. Wir haben oft Leute, die mit hoher Medikation zu uns kommen und dann zum Schluß noch so 15 mg Atosil bei Bedarf haben.

Es geht um die Frage: Wenn man verbal nicht hilfreich sein kann, aber auch Berührung als bedrohlich erlebt wird, was soll man denn dann machen? Welche Möglichkeiten hat man da? Ich nehme das als Stichwort für die Frage der therapeutischen Vorgehensweise. Dabei muß man zwischen den Notfallreaktionen und den allgemeinen Therapiestrategien unterscheiden. Ich will die Notfallreaktionen, also die Kriseninterventionsmöglichkeiten in meine Überlegungen zur gesamttherapeutischen Vorgehensweise einbauen.

Anfang der 80er/90er Jahre gab es recht bald Forscher in den USA, die meinten: die schweren Persönlichkeitsstörungen in Psychiatrien, gerade die Borderline-Persönlichkeitsstörungen, das sind doch eigentlich alles chronifizierte posttraumatische Belastungsstörungen. Es hat sich inzwischen statistisch hochgradig erwiesen, daß bei den schweren Persönlichkeitsstörungen massive Traumatisierungen in 50 bis 80 % eine Rolle spielen. Das hängt nun sicher auch davon ab, wie man die Störungen definiert und welche Kriterien man anlegt, aber der Anteil ist jedenfalls sehr viel höher als die Prävalenz in der Gesamtbevölkerung, die nach den neuesten Studien des Kriminologischen Instituts in Hannover bei den schweren Traumatisierungen bei 0,8 % in der Gesamtbevölkerung liegt. 0,7% bis 0,8% der Frauen sind in der Familie bis zum 16. Lebensjahr schwerer sexueller Gewalt ausgesetzt; bei den Patientinnen mit selbstverletzendem Verhalten und Borderline-Persönlichkeitsstörungen sowie schwerer Suchtentwicklung liegen die Zahlen irgendwo bei 80 bis 85%!

Es gibt einen langen Streit darüber, welche Rolle das nun spielt. Ist das nun die Ursache, oder gibt es eine prämorbide Persönlichkeit, bei der die Traumatisierungen stärker wirken? Dieser Streit ist noch im Gange, und den finde ich auch ausgesprochen spannend und interessant.

Was wir seit einigen Jahren versuchen, ist zu sagen: Wir tun mal so, als ob das Trauma das Wichtigste wäre. Wir stellen es therapeuisch in den Mittelpunkt. Es ist also sozusagen ein Experiment dahingehend zu sagen: Wir verändern das Gewicht. Wir sagen einfach: Die Traumatisierung ist das Wesentliche, die behandeln wir zuerst.


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